Die 60er und 70er Jahre
Alle Macht der Jugend
1966 vollzog sich im Verein ein radikaler Generationswechsel. Ein Honoratiorenvorstand gab nahezu alle Vorstandsposten in die Hände von jungen Leuten, die zuvor durch erhebliche Ruderleistungen auf sich aufmerksam gemacht hatten. Der neue Vorsitzende, Juraprofessor Jürgen Salzwedel, war 38 Jahre alt, der Ruderwart Roland Horster 27, der Kassenwart Hartmut Block 24 und der Bootswart Klaus Wolffrom 26.
Der neue Vorstand bemühte sich nach Kräften den antiautoritären 82er-Geist weiter zu befördern und hob althergebrachte Regelungen für die Nutzung verschiedener Bootsklassen auf. Die Besetzung der Vorstandsposten mit ausgesprochen jungen Mitgliedern, die gleichwohl Erfahrungen aus der Schülerruderzeit mitbrachten, blieb in den folgenden Jahren eine gute Tradition. Verbandspolitisch war dieser Vorstand dem Deutschen Ruderverband gegenüber sehr kritisch, weil der Verband damals noch sehr viel stärker als heute nahezu ausschließlich den Rennrudersport im Blick hatte und Rudern als Breitensport vernachlässigte.
Fernweh
Der BRV entdeckte in den 1960er Jahren das Thema Wanderfahrten noch einmal neu. Bis dahin waren Wanderfahrten nur auf dem Rhein und seinen Nebenflüssen möglich gewesen, weil der Bootstransport per Eisenbahn oder durch Aufladen auf ein flußaufwärts fahrendes Schiff bewerkstelligt werden musste und man möglichst in Bonn am Steg wieder ankommen wollte. Mit der Anschaffung eines Bootsanhängers 1964 und eines eigenen Zugfahrzeugs 1969 (ein gebrauchter Haribo-Kleinbus) öffnete sich eine völlig neue Dimension des Wanderruderns.
Es wurden jetzt mit Vorliebe auch weit entfernte Ziele in ganz Europa angesteuert. Wesentlich zur Mobilität der Wanderruderer trug zudem die Anschaffung von mehreren teilbaren Booten bei, die man einfach auf das Autodach verladen konnte. Die jungen Bonner Ruderer entwickelten nun den Ehrgeiz, verrückte Erstbefahrungen von Gewässern zu wagen, die bis dahin nicht von Ruderbooten gemeistert worden waren.
Die Ruderleistung stieg in diesen Jahren explosionsartig: von 47.000 im Jahr 1968 auf 75.500 Kilometer 1969, davon 35.000 Kilometer auf Wanderfahrten errudert. In jenem Jahr erlangte der BRV auch den Platz eins in der Wanderfahrten-Statistik der Vereine mit weniger als 100 aktiven Mitgliedern – eine Spitzen-Stellung, die wir in ähnlicher Form bis heute fortführen. Die Spezialisierung als Breitensport- und Wanderruder-Verein aus den 1950er Jahren fand in dieser Entwicklung ihre eindrückliche Bestätigung.
60 Kilometer – immer Kreis
Anfang der 1970er Jahre nahm ein neuer Trend im Verein Fahrt auf. Die eifrigen Wanderruderer – lange Strecken und manche Strapaze von den unzähligen Touren auf allen Flüssen Europas gewohnt – begannen sich an Langstreckenrennen zu beteiligen. 1971 startete der BRV erstmals beim internationalen Rudermarathon in Lüttich und gewann bereits 1972 den Pokal für den erfolgreichsten Verein. Gefahren wurden damals sieben Runden á 8,7 Kilometer, insgesamt also stolze 60,9 Kilometer. Seit dieser Zeit ist die Langstreckenregatta in Lüttich fester Bestandteil des Vereins-Kalenders. Für jede Teilnahme bekommt man ein einen mittelschönen Zinnteller. Manch ruderversessener Regattateilnehmer könnte inzwischen mit diesen Trophäen seine Küche zinnern kacheln, wenn nicht sogar das Wohnzimmer.
Die Schüler kommen
Das Bootshaus erlebte 1973 eine Modernisierung und Erweiterung. Es wurde im Norden eine weitere Bootshalle angebaut, die die Stadt Bonn anmietete und den Schülerrudervereinen des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums und des Friedrich-Ebert- Gymnasiums zur Verfügung stellte. Der Verein sah die Nähe und Nachbarschaft zu den eigenständigen Schüler-Rudervereinen mit Freude – hatten doch die meisten Mitglieder in von Schülern selbst organisierten Vereinen ihre lebenslange Leidenschaft für diesen Sport gefunden. Etliche dieser Schülerruderer traten später in den BRV ein und befördern bis heute ganz wesentlich die Vereinsaktivitäten.
Manche behaupten sogar, daß der Bonner Ruderverein eigentlich eine Art lebenslanges Schülerrudern betreibe – unter optimierten finanziellen Bedingungen. Gemeint ist damit vor allem das lässig-libertäre Credo der Schülerrudervereine: “Viel Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Mitglieder. Soviel Verwaltung wie nötig, so viel Rudern wie möglich!” Und es gibt viele weitere Reminiszen an die Schülerruderei: Einige 82er pflegen seit Jahrzehnten im Verein Freundschaften aus Schulzeiten. Auf Wanderfahrten wird oft in Bootshäusern oder sogar im Zelt übernachtet. Abgewetzte und sonnenverblichene Ruderkleidung war im BRV schon seit jeher Ausdruck eines raffinierten Stilbewußtseins – lange bevor es used look und chabby chic überhaupt gab. Einziger Unterschied zu Schülertagen: Lambrusco aus der Zweiliterflasche und Ravioli vom Gaskocher haben etwas an Attraktivität verloren. Das bei der Bootshausübernachtung und dem Tragen von historischer Kleidung ersparte Geld wird bevorzugt in gutes Essen und qualitätsvolle Weine investiziert.
Damenwahl
Seit 1882 hatten die Herren weitgehend unter sich gerudert. Die Damen blieben zu Haus zurück oder winkten zur Abfahrt dekorativ am Steg. Mancher Mann hatte diese monogeschlechtliche Zone zu schätzen gelernt. Dieses beschränkte Glück fand 1977 ein abruptes Ende. Vier Damen verlangten skrupellos nach einer Mitgliedschaft und erhielten sie schließlich auch gewährt. Die noch rein männliche Mitgliederversammlung diskutierte aber lange hinter verschlossener Tür, ob diesem Wunsch stattgegeben werden könne. Es wurde die Frage debattiert, wo denn diese Damen sich umziehen sollten. Die „Alten Herren“ bestanden auf ihrem Gewohnheitsrecht, den ehemaligen Damen-Umkleideraum zu nutzten. Es wurde zunächst die Praxis einer alternierenden Nutzung dieser Umkleide entweder durch die Damen oder die alten Herren probiert. Nachdem eines Tages die Klamotten der Alten Herren von weiblicher Hand unsanft in den eigentlichen Herrenumkleideraum beförderert worden waren, konnte sich schließlich die reinweibliche Nutzung durchsetzen. In den folgenden Jahren traten zahlreiche Damen ein. Gerudert wurde jetzt – im Gegensatz zum getrennten Ruderbetrieb in den 20er und 30er Jahren – selbstverständlich in gemischten Booten. Seit den 80er Jahren sind die Damen selbstverständlicher Teil der Ruderbetriebs und des Vereinslebens. 2015 nahmen die Frauen 20 der 50 vorderen Plätze in der Kilometerstatistik ein.